Warum die schönsten Worte nicht “Ich liebe dich” sind.

Für die einen die schönsten und bedeutendsten Worte der Welt, für andere ein Overkill an Kitsch und Schmalz. Aber was steckt eigentlich dahinter? Was Liebe bedeutet, haben schon viele Wissenschaftler und Philosophen versucht zu erklären. François Lelords zum Beispiel mit Hectors Reisen. Sehr zu empfehlen übrigens, wenn man keine Angst vor erheiternder Selbstreflexion hat. Aber eigentlich kann man es gar nicht erklären, eigentlich kann man es vor allem spüren. Tief im Herzen. Ich habe es gerade eben erst gefühlt. Gerade, als ich meine große Tochter (sie ist jetzt 5) ins Bett gebracht habe. Wie immer fragt sie mich ganz lieb, ob ich noch bei ihr bleibe und es ist schon Tradition, dass ich mich noch zu ihr ins Bett lege bis sie eingeschlafen ist. Manch einer mag das als “verwöhnen” und “verhätscheln” abtun, aber ich liebe diesen kleinen Moment, den wir wirklich nur für uns beide haben. Sie rutscht auf der nicht gerade breiten 90 cm Matratze ganz zur Seite und ich lege mich mit dazu. Wir kuscheln uns beide unter die auch nicht gerade breite Decke, ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und streiche ihr die Haare aus dem Gesicht. Dann nimmt sie mich meistens in den Arm und schläft ein. Heute haben wir zum Einschlafen Musik gehört. Es lief “Geboren um zu leben”. Eigentlich ein Lied, das immer nebenbei lief und nie wirklich Beachtung von mir bekommen hat, aber heute lag da meine Tochter neben mir und ich hatte Zeit, dem Text zu lauschen. Ich bin dankbar für jede einzelne Sekunde, die wir gemeinsam verbringen. Und ich bin so unendlich froh, dass wir eine so feste Bindung haben. Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da hat sie mich wirklich in den Wahnsinn getrieben. Wutanfälle waren da an der Tagesordnung und sie war schon immer sehr sensibel. Es musste quasi nur die Gabel nicht am richtigen Platz liegen, schon hatte ich stundenlanges Geschrei. Ist sie nachts wach geworden, durfte ich tragen und an Ablegen war nicht zu denken. Das waren harte Nächte und viele Kämpfe, die ausgetragen wurden. Aber warum kämpft man so hart gegen sein Kind an? Weil man meint, es müsse sich unseren Vorstellungen einer funktionierenden Welt anpassen? Weil wir den Grund für den Wutanfall als absolut übertrieben und nicht gerechtfertigt ansehen? Warum? Was zeigen wir unserem Kind damit? Doch nur, dass wir es in seinen größten Ängsten und Gefühlen nicht verstehen wollen, sondern ihm nur ein Verhalten aufzwingen, welches unsere Gesellschaft als richtig ansieht. Als richtig für ausgewachsene erwachsene Menschen aber doch sicher nicht in den Köpfen unserer Kinder. Was ist da bitte richtig und falsch? Richtig finde ich vor allem, dass wir für unsere Kinder da sind und sie das Gefühl haben, verstanden zu werden, das Gefühl, nicht alleine zu sein. Und das habe ich damals gelernt. Ich habe alle Vorurteile verbannt und meinem Kind zugehört. Erst so konnte ich erkennen, wieviele Gedanken sie sich wirklich macht. Welche Ängste sie durchlebt und warum sie deshalb manchmal so sehr übertrieben reagiert. Heute ist sie ein so wahnsinnig mitfühlender Mensch. Sie reflektiert das Verhalten der Menschen um uns herum und öffnet mir immer wieder die Augen für das nicht Offensichtliche. Und am liebsten würde ich es in die Welt herausschreien: Ich liebe dich! Du Sonnenschein. Aber ganz ehrlich? Das sind nicht die schönsten Worte der Welt. Denn stellt euch nur mal vor, ich hätte mich weiterhin so ignorant ihren Gefühlen gegenüber verhalten? Hätte auf alle anderen aber nicht auf sie gehört. Dann könnte ich jetzt zwar sagen “Ich liebe dich!” aber ich wüsste nicht, ob sie das gleiche fühlen würde. Ob unsere Bindung so stark wäre, wie sie jetzt ist. “Ich liebe dich” flüstere ich meiner Tochter ins Ohr. Und ja, es sind starke und schöne Worte, keine Frage. Aber the Winner is: Ich liebe dich auch! Denn erst dann kann man von gegenseitiger Liebe sprechen. Die einzig wahre, erwiderte Liebe. Eine Liebe, die dem ganzen Bösen dieser Welt den Mittelfinger zeigt. Ein “Ich liebe dich” ohne “Ich dich auch” kann einem das Herz brechen. “Ich liebe dich auch” säuselt meine Tochter als Antwort. Ihren Arm hat sie noch immer fest um mich gelegt.